Die Atmung ist beim Singen ein sehr wichtiger Faktor und bestimmt mit darüber, ob die Stimme frei fließen kann, ob Töne “gestützt” sein dürfen und lange Phrasen gesungen werden können.
Ich möchte hier einige Anregungen darüber geben, wie die Atmung beim Singen funktioniert und mit welchen Übungen man sie trainieren kann. Hier geht es zunächst um einen allgemeinen Zugang zur Sängeratmung und dabei stehen für Sänger hilfreiche Bilder im Vordergrund – auf detaillierte Beschreibungen von Muskeln und ihrer Funktion wird daher verzichtet.
Da das Thema sehr umfangreich ist, werde ich diesen Artikel Stück für Stück erweitern und zunächst mit einigen Grundlagen starten.
Und wie immer:
Bitte lesen und neugierig ausprobieren, ob die Übungen und Ideen für einen selbst stimmig sind. Alle Menschen sind verschieden und auch so wird meine Art, Atmung beim Singen zu erklären, vielleicht nicht zu allen Sängern passen :-).
Vorbemerkungen zur Atmung beim Singen
Die Atmung beim Singen ist ein sehr komplexes Thema. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Gesangsschüler nicht wissen, wie sie beim Singen gut atmen sollen und dass es auch (verständlicherweise) Gesangslehrern schwer fällt, dieses Thema zu vermitteln.
Ich selbst habe auf meinem Weg als Sängerin viele verschiedene Gesangstechniken gelernt und ausprobiert und auch teils sehr unterschiedliche, sich oft (zumindest scheinbar) widersprechende Aussagen über die Atmung gehört.
Jeder sagt etwas anderes…
- Die einen sagen, man muss “in den Bauch” atmen. Andere wünschen sich einen entspannten Bauch und dafür soll der Brustkorb weit sein.
- Einmal liegt der aktive Fokus auf der Einatmung – bei anderen liegt der Fokus auf der Ausatmung.
- Einerseits heißt es, der Körper soll beim Singen entspannt und durchlässig sein und vor allem der Bauch “locker” – andererseits spricht man von einer “Stütze” und es wird durchaus Aktivität im Bauch verlangt.
- Einer sagt: atme so tief ein, wie möglich. Dagegen heißt es: passend zur Phrase einatmen und nur so viel, wie nötig.
- usw…
Viele Wege führen zum Gipfel
Wie so oft, findet sich in fast allen Aussagen ein Körnchen Wahrheit und die ideale Atemtechnik vereint viele dieser scheinbaren Gegensätze.
Ich stelle mir lernen oft so vor, als würden man auf einen Berg steigen. Oben am Gipfel sind sich alle einig, dass es “so funktionieren und klingen soll”. Aber viele Wege führen zum Gipfel. Und so kann ein Anfänger oft nicht sofort den ganzen Weg verstehen, sondern wird vom Lehrer Schritt für Schritt gelenkt. Je nachdem, von welcher Seite man sich dem Gipfel nähert, können die Anweisungen sehr unterschiedlich sein.
Wie schon im Eingangsartikel erwähnt, verwende ich sehr gerne das Bild der Werkzeugkiste beim Unterrichten, in dem ich Schülern verschiedene Übungen und Möglichkeiten anbiete, wie man an bestimmten Themen arbeiten kann. Übertragen auf den Weg zum Gipfel bedeutet das, dass ich den Gesangsschülern bereits auf den ersten Schritten am Berg sage und zeige, welche Möglichkeiten es gibt, was sie auf dem Weg erwarten und wie vielleicht der Gipfel aussehen kann. Deshalb werde ich auch hier verschiedene Varianten aufzeigen und auf möglichst umfassende und ganzheitliche Art die Verbindung aus scheinbaren Gegensätzen aufzeigen.
Grundlagen von Ein- und Ausatmung
Willkürliche und unwillkürliche Atmung
Zum besseren Verständnis der Abläufe beim Gesang, möchte ich kurz auf die Unterscheidung von “willkürlicher” und “unwillkürlicher Atmung” eingehen.
Im Alltag fließt die Atmung meist von alleine – wir denken normalerweise nicht ans Atmen. Diese Atmung, die von alleine geschieht, bezeichnet man als “unwillkürliche Atmung“. Wenn wir z.B. entspannt in Rückenlage liegen, können wir spüren, wie der Atem ganz ruhig und gleichmäßig ein- und ausströmt. Das ist ein “passiver Zustand”. Die Muskeln arbeiten natürlich aktiv, aber der Verstand beeinflusst die Atmung nicht, sondern lässt den natürlichen Rhythmus, den der Körper vorgibt, geschehen und beobachtet höchstens die Abläufe.
Wir können die Atmung aber beeinflussen, in dem wir z.B. bewusst tief oder hoch einatmen, kräftig ausatmen, schneller oder langsamer atmen etc… In dem Moment steuern wir über den Verstand unsere Atmung und lassen sie vom natürlichen Rhythmus abweichen. Die Atmung ist nicht länger unwillkürlich – es entsteht eine “willkürliche Atmung“.
Einatmung
Wenn man tief einatmet, kann man eine Bewegung im Körper spüren. Vielleicht wird der Brustkorb weit oder der Bauch wölbt sich nach außen. Bei der Einatmung findet eine “Dehnung” statt – der Oberkörper wird weit, das Zwerchfell senkt sich ab, die Lunge füllt sich mit Luft. Um das zu ermöglichen, ist eine Gruppe von Muskeln aktiv – die Einatemmuskulatur.
Es gibt verschiedene Stärken von Einatmung. So kann die Luft ruhig und langsam einströmen – z.B. in Ruhelage. Oder es ist z.B. ein kräftiges, schnelles Atmen möglich – wie z.B. beim Sport. Die Menge an Luft, die vom Körper aufgenommen wird, kann daher auch sehr unterschiedlich sein.
In der unwillkürlichen Einatmung, bei der der Atem unbeeinflusst von alleine einströmt (die “Alltagsvariante”), entscheidet der Körper instinktiv von alleine, welche Art von Atmung er gerade benötigt – schnell, langsam, viel, wenig,…
Für den Gesang brauchen wir aber die Fähigkeit, unsere Luft auf die Erfordernisse des Gesangs abzustimmen. Also z.B. vielleicht tiefer einzuatmen, als wir das im Alltag tun. Aber vor allem auch, zu einem festgelegten Zeitpunkt einzuatmen, damit wir zum musikalisch richtigen Zeitpunkt mit dem Gesang einsetzen können. Wir beeinflussen unsere Atmung mit unserem Willen – sie wird “willkürlich“.
Schwierigkeiten bei der willkürlichen Einatmung
Und hier kommt bereits der erste Stolperstein für viele Menschen: Für sie ist es sehr ungewohnt, zu einem festgelegten Zeitpunkt: JETZT – einzuatmen. Das führt oft zu einer sehr verkrampften Einatmung, die für den Gesang nicht förderlich ist.
Ein ähnliches Thema ist die Art oder Stärke der Einatmung: Sobald z.B. durch einen Gesangslehrer ein Hinweis kommt, dass an der Atmung etwas geändert werden sollte (z.B: tiefer einatmen), entsteht leicht eine Blockade. Ein Sänger hat dann das Gefühl, etwas “tun zu müssen”. Oft führt das dann z.B.. zu “Luft einziehen” oder auch “Hochatmung”. Dadurch verliert die Atmung ihre Natürlichkeit und der Körper seine Durchlässigkeit.
Eine ähnliche Thematik tritt auch auf, wenn der Atem bewusst an bestimmte Körperstellen gelenkt bzw. dort wahrgenommen werden soll (“Atme in den Bauch”).
Ausatmung
Bei der natürlichen Ausatmung wird “die Einatmung rückgängig gemacht”. Wo vorher eine Dehnung stattfand und Weite entstand, geht jetzt alles in den entspannten Ausgangszustand zurück. Das Zwerchfell entspannt wieder, die Luft entweicht aus der Lunge. Möglich wird das durch die Ausatemmuskulatur.
Im Alltag ist die Ausatmung typischerweise ein passiver Prozess. Die vom Körper eingeatmete Luft wird gleichmäßig wieder abgegeben. Auch wenn manche Menschen den Ausatemprozess als aktiv empfinden, bezeichne ich diese unwillkürlich ablaufende Ausatmung als passive Ausatmung.
Bei der natürlichen passiven Ausatmung verbleibt etwa ein Drittel der Luft in der Lunge. Möchte man vollständig ausatmen, dann kann man bewusst weiter ausatmen, bis die Lunge “ganz leer” ist. Man zieht z.B. den Bauch ein und “schiebt so die Luft aus der Lunge.” Das ist das, was ich unter einer “Aktiven Ausatmung” verstehe.
Übungen zur Einatmung
Übung Atemreflex
Diese Übung ist besonders hilfreich für Menschen, die “nicht wissen, wie sie einatmen sollen”. (Und das gibt es viel öfter, als man denkt 😉 )
Über die aktive Ausatmung lässt sich ein Einatemreflex generieren.
Dazu atmet man vollständig aus (ev. leicht vorne übergebeugt) und wartet ab, bis der Körper wieder einatmen möchte. Der Körper hat einen natürlichen Atemreflex, der eine tiefe, oft sehr natürliche Einatmung startet, wenn er ausgelöst wurde. Und genau das kann mit der aktiven Ausatmung erreichen.
Wenn der Einatemreflex kommt, “loslassen”, den Körper weit werden lassen und von alleine tief einatmen. Aus einer eventuell vorgebeugten Haltung wieder aufrichten. Spüren, wie die Luft in den Körper strömt.
Bei vielen Menschen findet über den Einatemreflex eine sehr tiefe und entspannte Einatmung statt. Es bietet sich an, hier in den Körper zu spüren: Wo nehme ich die Luft wahr? Oft wird die Atmung als viel tiefer und vollständiger empfunden, also wenn man versucht “einfach so” tief einzuatmen.
Einige Menschen können mit dieser Übung nichts anfangen – das ist normal und entspricht meiner Erfahrung von Verschiedenheit der Menschen :-). Aber vielen Sängern hilft diese Technik sehr und kann z.B. immer verwendet werden, wenn es heißt “jetzt bitte tief einatmen“. Dann einfach vorher ausatmen, auf den Reflex warten und den Körper tief einatmen lassen.
Die Übung funktioniert allerdings normalerweise nicht, wenn das Einatmen zu einem bestimmen Zeitpunkt wie z.B. Beginn einer Phrase beim Singen, erfordert ist. Die Atemreflex-Übung dient dazu, dem Sänger zu zeigen, wie sich eine tiefe natürliche Atmung anfühlen kann. Und dann gilt es zu üben, dieses Gefühl auch Schritt für Schritt bei einer Einatmung zu einem bestimmen Zeitpunkt zu erreichen.
Übung Arme heben
Die Arme einatmend über den Kopf heben, ausatmend wieder senken. Dabei die Dehnung in den Flanken spüren.
Die Flanken werden bei der Einatmung gedehnt, es kann mehr Luft in den Brustkorb einströmen. Durch die (möglichst gleichmäßige) Armbewegung wird ein “hektisches Einziehen der Luft” vermieden, die Luft kann gleichmäßig einströmen. In der Ausatembewegung wird über das entspannte und gleichmäßige Senken der Arme ein entspannter und gleichmäßiger Luftstrom erzeugt.
Übung schnelles Einatmen durch “Erschrecken”
Manchmal ist zwischen zwei Phrasen nur sehr wenig Zeit zum Einatmen. Dann kann die “Erschreck-Übung” helfen:
Wenn man plötzlich überrascht einatmet, weil man sich erschreckt und sozusagen “nach Luft schnappt”, atmet man oft in sehr kurzer Zeit viel Luft ein. Ich stelle mir vor, dass die Lunge in einer schnellen Bewegung ganz weit wird (die Rippen gehen nach außen, Zwerchfell senkt sich ab) und die Luft dann von oben durch den entspannten offenen Hals einfach “nach unten fällt“. Bei dieser Übung sollten – wie möglichst immer im Gesang – die Knie nicht durchgedrückt sein. Ich gehe bei dieser Übung sogar manchmal leicht in die Knie. (Auch hier werde ich ein Video zur Verdeutlichung einstellen.)
Luftstrom beim Singen
Ich möchte kurz davon ausgehen, dass der Sänger bereits verstanden hat, wie er zum richtigen Zeitpunkt tief und für den Gesang passend einatmen kann.
Im Unterschied zur Alltagsatmung möchten wir ja beim Singen nicht einfach nur ausatmen. Wir möchten auf eine “ganz besondere Art ausatmen” – nämlich die Luft so gleichmäßig fließen lassen, dass sie quasi ein sanft fließender Strom ist, auf dem Töne schwimmen können und so Gesang entstehen.
Um diese besondere Art der Luftabgabe zu ermöglichen, benötigt es ein Zusammenspiel der Ein- und der Ausatemmuskulatur.
Bei der Einatmung findet die oben beschriebene Dehnung statt. Bei der Ausatmung arbeitet jetzt die Einatemmuskulatur weiter und verzögert dadurch die Ausatmung. Während also einerseits über die Ausatemmuskulatur eine passive Ausatmung stattfindet und die Luft aus der Lunge entweicht, sorgt die Einatemmuskulatur dafür, dass Tempo und Intensität der Luftabgabe geregelt werden können.
Der Begriff “Einatemtendenz” beim Singen beschreibt genau das: Die Haltung der Einatmung wird beibehalten – also wird z.B. der Brustkorb beim “Sing-Ausatmen” weit gehalten, während er bei der natürlichen Ausatmung wieder entspannen darf.
Übung sss für Luftstrom und Einatemtendenz
Ein Klassiker unter dem Atemübungen ist es, die Luft gleichmäßig auf einen “Zischlaut” wie sss (stimmloses s) oder f ausströmen zu lassen.
Dazu tief einatmen (gerne mit Ausatmung und Einatemreflex davor, um eine tiefe und natürliche Einatmung zu erreichen), dann die Luft ganz gleichmüßig auf z.B. sss ausströmen lassen. Die Luft soll gleichmäßig fließen und so sparsam ausgegeben werden, dass die Luft möglichst lange reicht.
Unterstützt werden kann diese Übung durch die folgende Armbewegung: Die Hände werden vor dem Brustbein mit etwas Abstand zusammengenommen – die Finger berühren sich. Und dann zieht man die Hände ganz langsam auseinander, als würde man z.B. eine Schnur straff spannen (Video folgt 🙂 ). Über die gleichmäßige Armbewegung wird oft auch der Luftstrom gleichmäßiger. Wenn die Ellenbogen jetzt noch nach außen zeigen, kann man oft spüren, wie sich die Flanken dehnen und auch bei knapper werdender Luft nicht direkt zusammenfallen. So wird die Weite und Spannung im Brustkorb länger aufrecht erhalten und der Luftstrom kann länger fließen. Damit sind längere Atemphrasen im Gesang möglich.
Um diese Übung “messbar” zu machen, kann man entweder die Sekunden zählen, wie lange man ausatmen kann. Oder es ist möglich, während der Übung einen Weg zu gehen und zu vergleichen, ob die Strecke, die man schafft, mit der Zeit länger wird. So sieht man den Trainingseffekt sehr anschaulich.
Übung “Wind und Sturm”
Diese Übung ist besonders für Sänger geeignet, die das Gefühl haben, die eigene Luft bzw. den Luftverbrauch/die Luftmenge beim Singen nicht steuern zu können.
Genau wie bei der iss-Übung tief einatmen und die Luft auf sss ausströmen lassen. Aber während vorhin Gleichmäßigkeit erwünscht war, spielen wir jetzt mit der Stärke der Luft, mit der Dynamik. Wir starten “gemütlich” mit einem natürlichen Fluß. Und dann kann man leiser werden, lauter werden, wellenartige Bewegungen im Klang erzeugen usw. Am Ende der Übung wird der Sänger normalerweise bemerken, dass es möglich war, den Luftstrom zu beeinflussen. Und das ist das Ziel der Übung :-). Danach kann mit der gleichmäßigen sss-übung weiter gearbeitet werden. Und für den Gesang kann die Erfahrung mitgenommen werden, dass der Luftstrom beeinflussbar ist.
Und weiter?
So, das waren ein paar erste Anregungen und Übungen zum Thema Atem. Viel Spaß beim Ausprobieren!
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